17.07.2016

Nizza

"Freiheit", "Gleichheit" und "Brüderlichkeit"- Worte, so wunderschön, dass man sie hasst.

In der Schule wird uns ein Pool verschiedener Disziplinen vorgestellt, in der Hoffnung, dass uns eine davon begeistern und uns durchs Leben tragen wird.
Der eine freut sich ungemein auf den Sportunterricht und wird Sportlehrer. Der andere entdeckt durch eine wundervoll aufgegangene mathematische Gleichung seine Liebe zu Zahlen und wird Banker.
Ich erinnere mich noch an meinen Moment der Begeisterung. Es war im Deutschunterricht. Heute das nächste Thema auf dem Lehrplan: Immanuel Kants Schriften zur Aufklärung. "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." Die Zeit blieb stehen. Meine Umwelt, die Schulklasse, verblasste. Es gab nur mich und das Reclam–Heft. Ich war verliebt.

Für meine Mitschüler war das wahrscheinlich nur weiterer Stoff, der mühsam durchzukauen war. Er langweilte sie. Ich möchte damit nicht sagen, dass ich fleißiger war. Nein, meinen Mitschülern war die Bedeutung dieser wertvollen Sätze nicht zugegen, weil ihre Familien schon längst in Aufgeklärtheit lebten. Für sie war sie Normalität und das ist wundervoll.
Für mich hingehen beschrieben diese Worte etwas Diffuses, das Fehlen eines Irgendwas, für das ich noch keine Worte gefunden hatte. Jetzt hatte ich sie gefunden. Mündigkeit. Unmündigkeit. Aufklärung. Mut. Die Worte, die Sprache, die Schrift gaben meinen Gedanken einen Namen, einen Rahmen. Meine Familie war noch nicht in der Französischen Revolution angekommen.

"Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen," sagte Immanuel weiter und bestätigte mir, dass es richtig war, was ich tat, wenn ich mich dazu entschied, eine Einladung zu einer Feier anzunehmen bei der sich meine Freunde trafen, statt mich dem psychischen Druck meiner Eltern zu beugen und zu Hause zu bleiben, weil sich die verschleierte Verwandtschaft angekündigt hatte.
Durch ihn fühlte ich mich zum ersten Mal vollkommen verstanden. Denn er sah, dass es nicht das Recht meiner muslimischen Verwandten war, mir das Gefühl zu geben, etwas Böses zu tun, wenn ich mich nach meinen persönlichen Interessen und nicht nach ihren erfundenen Normen richtete. Es war nicht böse! Es war positiv–nicht negativ! Es war Mut! Von nun an wurde ich unterstützt. Ich hatte Rückgrat. Das ist, weshalb Mädchen nicht in die Schule geschickt werden.
Das ist, weshalb Erdogan in die Umwälzung der Wissenschaft in Koranschulen investiert. Um zu verhindern, dass Frauen diesen Worten begegnen.

Auch für mich wäre es einfacher gewesen, mich in der Komfortzone der Isolierung zu suhlen. Es wäre einfacher, nicht an die Gleichheit zu glauben. Brüderlichkeit ist nicht einfach. Es wäre einfacher gewesen, die anderen zu hassen, die die Freiheit lieben und mich daran erinnern, dass ich nicht denselben Mut aufbringen kann. Es wäre einfacher, ins Auto zu steigen und Menschen umzufahren, als den mühsamen Weg zu gehen, mich als Individuum weiterzuentwickeln und dann mitzufeiern. Die Privilegien mitzufeiern, die Europa uns gegeben hat.

[Änderungen am Text: Der Titel wurde am 30. Oktober 2023 von "Nizza" auf "Islamistischer Terror" geändert, weil er etwas mehr über den Inhalt aussagt. Auch dieser Titel ist noch nicht ideal. Gerne nehme ich Vorschläge an.]